Schwarz-Roter Koalitionsvertrag: Aufbruch in die digitale Zukunft oder alter Wein in neuen Schläuchen? Eine erste Bewertung:

[9.April 2025) Deutschland steht vor einer neuen Regierungskonstellation aus CDU, CSU und SPD. Der vorgelegte Koalitionsvertrag für die 21. Legislaturperiode steckt den Rahmen für die kommenden Jahre ab und widmet sich dabei auch ausführlich den digitalen Herausforderungen und Chancen unseres Landes. Aus Sicht der Internet Society Germany Chapter (ISOC.de) ist eine ambitionierte, kohärente und grundrechtsbasierte Digitalpolitik entscheidend für Wohlstand, Teilhabe und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Wir haben uns den Vertrag angesehen und eine erste Analyse der wichtigsten digitalpolitischen Vorhaben und die geplante Ressortverteilung des „Kabinett Merz“ vorgenommen.

Ein lang erwarteter Schritt: Das Bundesministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung Zunächst eine positive Nachricht: Die Koalition plant die Einrichtung eines eigenen Bundesministeriums für Digitalisierung und Staatsmodernisierung (BMDS), das der CDU zugeordnet wird. ISOC.de begrüßt diesen Schritt ausdrücklich. Wir fordern seit Langem eine zentrale Stelle mit politischem Gewicht, um die Zersplitterung der Zuständigkeiten zu überwinden und die digitale Transformation ressortübergreifend zu koordinieren. Die Benennung “Staatsmodernisierung” unterstreicht den Fokus auf die dringend notwendige Digitalisierung der Verwaltung (E-Government).

Die digitalpolitischen Kernziele im Überblick Der Koalitionsvertrag, insbesondere Kapitel 2.3 “Digitales”, formuliert eine Reihe von ambitionierten Zielen:

  1. Digitale Souveränität: Deutschland und Europa sollen technologisch unabhängiger werden, insbesondere bei Schlüsseltechnologien wie Chips, KI, Cloud und Cybersicherheit. Resiliente digitale Infrastrukturen und Wertschöpfungsketten sind das Ziel.
  2. Infrastrukturausbau: Der flächendeckende Glasfaserausbau (FTTH) soll vorangetrieben und als “überragendes öffentliches Interesse” definiert werden. Auch der Mobilfunkausbau, unterstützt durch die Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft (MIG), bleibt auf der Agenda.
  3. E-Government & Verwaltungsmodernisierung: Das “Once-Only”-Prinzip soll konsequent umgesetzt werden. Bürgerinnen und Bürger sollen eine Deutschland-ID und Zugang zur europäischen EUDI-Wallet erhalten. Verwaltungsleistungen sollen zunehmend “antragslos” und “digital only” werden.
  4. Künstliche Intelligenz (KI): KI wird als Schlüsseltechnologie identifiziert. Geplant sind massive Investitionen in Rechenkapazitäten (“AI-Gigafactories”, “100.000-GPU-Programm”), die Förderung von KI-Anwendungen in der Industrie und im Mittelstand sowie der Aufbau von KI-Spitzenzentren.
  5. Cybersicherheit: Die Resilienz staatlicher IT und kritischer Infrastrukturen soll gestärkt werden. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) soll zur Zentralstelle ausgebaut (Zeile 2677 f.) und die aktive Cyberabwehr verbessert werden. Die Umsetzung der NIS-2-Richtlinie ist vorgesehen.
  6. Datenpolitik & Open Source: Eine “Kultur der Datennutzung und des Datenteilens” soll etabliert werden. Der Grundsatz “Public Money, Public Data” und der verstärkte Einsatz von Open-Source-Lösungen in der Verwaltung werden betont. Gleichzeitig gibt es Signale für eine Aufweichung des Datenschutzes zugunsten der Datennutzung (siehe Analyse “Datennutzung first, Datenschutz second”).
  7. Digitale Kompetenzen & Gesellschaft: Eine “altersübergreifende digitale Kompetenzoffensive” soll die Teilhabe aller ermöglichen und die Demokratie gegen Desinformation stärken. Barrierefreiheit wird ebenfalls betont.
  8. Wirtschaft & Innovation: Start-ups sollen gefördert, Bürokratie abgebaut und digitale Geschäftsmodelle unterstützt werden. Der digitale Binnenmarkt und europäische Initiativen (DSA, DMA, Chips Act) spielen eine wichtige Rolle.

Die Verteilung der Verantwortung: Ein Puzzle mit vielen Teilen Trotz des neuen Digitalministeriums bleibt die Digitalpolitik eine Querschnittsaufgabe, verteilt auf zahlreiche Ressorts. Laut Koalitionsvertrag ergibt sich (vereinfacht) folgende Zuständigkeitslandschaft:

  • Bundesministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung (CDU): Koordination der digitalen Transformation des Staates, E-Government, Registermodernisierung, digitale Identitäten, Once-Only, strategische Steuerung digitaler Infrastruktur.
  • Bundesministerium des Innern (CSU): Federführung bei Cybersicherheit (inkl. BSI), Schutz kritischer Infrastrukturen, digitale Aspekte der inneren Sicherheit und des Bevölkerungsschutzes.
  • Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (CDU): Förderung der Digitalwirtschaft (Start-ups, Mittelstand), Datenökonomie, industrielle KI, digitale Wettbewerbsfähigkeit, teils Breitbandförderung.
  • Bundesministerium für Forschung, Technologie und Innovation (CSU): Forschung zu Schlüsseltechnologien (KI, Quantencomputing, Mikroelektronik), Hightech-Agenda, Raumfahrt.
  • Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz (SPD): Rechtlicher Rahmen der Digitalisierung (digitaler Verbraucherschutz, Plattformregulierung [DSA/DMA], Datenschutzrecht, Urheberrecht, E-Commerce, digitale Justiz).
  • Bundesministerium für Verkehr (CDU): Physischer Ausbau der digitalen Infrastruktur (Glasfaser, Mobilfunk), autonomes Fahren.
  • Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (CDU): Digitale Bildung, Ausstattung von Schulen (DigitalPakt 2.0), Förderung digitaler Kompetenzen.
  • Weitere Ressorts: Auch Finanzen (Steuerliche Rahmenbedingungen), Verteidigung (Militärische Cyberfähigkeiten), Auswärtiges Amt (Internationale Digitalpolitik) und Kultur (Medienpolitik, digitale Kultur) haben wichtige digitale Teilaufgaben.
  • Bundeskanzleramt (ChefBK, CDU): Übergeordnete Koordination, Steuerung ressortübergreifender Projekte.

ISOC.de Perspektive: Licht und Schatten

Die Einrichtung des BMDS ist ein wichtiger Schritt, um der Digitalpolitik das nötige Gewicht zu verleihen. Die im Vertrag formulierten Ambitionen, etwa bei der Verwaltungsdigitalisierung, dem Infrastrukturausbau und der KI-Förderung, sind grundsätzlich zu begrüßen. Positiv hervorzuheben sind auch das Bekenntnis zu digitaler Souveränität und die geplante Stärkung von offenen Standards und Open Source – Kernanliegen von ISOC.de für ein offenes und interoperables Internet.

Gleichzeitig sehen wir aber auch erhebliche Herausforderungen und potenzielle Fallstricke:

  1. Effektive Koordination: Gelingt es dem neuen Ministerium und dem Kanzleramt, die vielfältigen digitalen Agenden der einzelnen Ressorts wirksam zu bündeln und Synergien zu heben? Die Gefahr von Silodenken und Kompetenzstreitigkeiten bleibt bestehen.
  2. Spannungsfeld Sicherheit vs. Freiheit: Im Bereich Cybersicherheit und Innere Sicherheit (BMI/CSU) deutet der Vertrag eine Tendenz zur Ausweitung staatlicher Befugnisse an (z.B. IP-Vorratsdatenspeicherung; automatisierte Datenanalyse). ISOC.de mahnt hier zur Vorsicht: Sicherheit darf nicht zulasten von Grundrechten wie der Privatsphäre und der Vertraulichkeit der Kommunikation gehen. Der Schutz starker Verschlüsselung ohne Hintertüren bleibt für uns zentral. Zwar bekennt sich der Vertrag zur Wahrung der Vertraulichkeit, die geplanten Maßnahmen müssen aber kritisch an diesem Maßstab gemessen werden.
  3. Datenpolitik und Datenschutz: Die Betonung einer “Kultur der Datennutzung” und die Prüfung von Regeln unter dem Motto “Datennutzung first, Datenschutz second” (siehe Analyse) ist erfreulich. Aber: So wichtig die Nutzung von Daten für Innovation und Verwaltungseffizienz ist, darf dies dennoch nicht zur Aushöhlung des Datenschutzes und der informationellen Selbstbestimmung führen. Die Balance zwischen Datennutzung und Schutz der Bürgerrechte muss gewahrt bleiben. ISOC.de wird darauf achten, dass Datenschutz und Datennutzung in einem guten Gleichgewicht bleiben.
  4. Digitale Teilhabe: Die angekündigte Kompetenzoffensive ist wichtig. Sie muss aber über technische Fertigkeiten hinausgehen und kritisches Denken, Medienkompetenz sowie den Schutz vor Desinformation umfassen. Zudem muss sichergestellt werden, dass “Digital Only”-Ansätze niemanden zurücklassen und analoge Zugänge sowie Unterstützung erhalten bleiben.
  5. Offenheit des Internets: Das Bekenntnis zur Netzneutralität und einem freien Netz ist positiv. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass Regulierungsbemühungen (z.B. bei Plattformen) oder Sicherheitsmaßnahmen nicht unbeabsichtigt die offene Architektur des Internets gefährden. Denn neue Verpflichtungen bringen oftmals auch neue Ermächtigungen mit sich, die die Macht von Plattformen sogar noch (ungewollt) steigern kann.

Personelle Weichenstellungen

Die Analyse und aktuelle Spekulationen über das Personal der Ministerien legen nahe, dass Schlüsselpositionen mit Personen besetzt werden könnten, die bereits Erfahrung in der Digitalpolitik mitbringen. Diese Personalien sind derzeit jedoch nur spekulativ. Entscheidend wird jedoch nicht nur die Expertise Einzelner sein, sondern die Fähigkeit des gesamten Kabinetts, kohärent und zielgerichtet an der digitalen Transformation zu arbeiten.

Fazit und Ausblick

Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD enthält viele richtige und wichtige digitalpolitische Impulse. Die Schaffung eines Digitalministeriums ist ein Signal des Aufbruchs. Die Umsetzung der ambitionierten Ziele wird jedoch ein Kraftakt, der eine effektive Koordination, ausreichende Finanzierung und eine kluge Balance zwischen Innovation, Sicherheit und Grundrechtsschutz erfordert.

ISOC.de wird die Arbeit der neuen Bundesregierung daher weiter eng und kritisch begleiten. Wir werden unsere Expertise einbringen, auf die Einhaltung fundamentaler Prinzipien wie Offenheit, Sicherheit und Vertraulichkeit im Netz pochen und uns weiterhin für ein Internet einsetzen, das allen Menschen dient. Die kommenden vier Jahre werden zeigen, ob der versprochene “Aufbruch auf die digitale Überholspur” gelingt oder ob Deutschland im internationalen Vergleich weiter an Boden verliert.

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